Do., 29. Mai 2025
„Gerade weil wir keine Werbung wollen, wird’s erst richtig kreativ.“

„Gerade weil wir keine Werbung wollen, wird’s erst richtig kreativ.“

Wie der LENDWIRBEL eine ganze Stadt aufwühlt

Der LENDWIRBEL hat wieder Stadt gefunden. Seit mehr als 17 Jahren ist das einwöchige Event ein kultiges Grazer Kreativphänomen und gleichzeitig Stimme der Vielen. In ihm manifestiert sich eine Haltung, die sich der Stadtentwicklung, Sichtbarkeit von Vielfalt und Rückeroberung öffentlichen Raums verschreibt – mit liebevoller Hartnäckigkeit. Mit VOLUME hat das LENDWIRBEL-Kernteam über missleading Partyimage, Prinzipien und Ideen geredet. Mit spürbarem Enthusiasmus fürs nächste Jahr.

Sei der Event-Ursprung auch ein bissl mythisch-verschwommen – das LENDWIRBEL-Kernteam selbst folgt inzwischen ganz klaren Überzeugungen: Kommunikation statt Chaos, Kollektiv statt Kommerz, Achtsamkeit statt reiner Partymeile. Auch dieses Jahr ist es den Veranstaltenden wieder gelungen, eine kunstreiche Woche mit all jenen zu gestalten, die diesen Stadtteil leben. Gemeinsam mit seinem Netzwerk aus Projektees werden Straßen zu Bühnen und Plätze zu politischen und poetischen Freiräumen.

(c) LENDWIRBEL      

LENDWIRBEL, was ist das?

Der LENDWIRBEL ist bekannt und beliebt als mehrtägiges Stadtteilhappening mitten in Graz, das heuer rund 150 Projekte versammelt hat: von Workshops über Musik und Tanz, Performances und Ausstellungen bis hin zu Diskussionen, Skate-Contests und Installationen. Der Zeitplan? Dehnbar. Das Programm? Vielstimmig. Manche Angebote stehen monatelang fest, andere spawnen fast spontan. „Leute kommen mit einer Idee für ein Projekt zu uns und wir überlegen gemeinsam, wie, wo und wann in der Woche das machbar ist“, so das Kernteam. „Heuer hatten wir zum Beispiel einen Zauberer, der spontan 400 Ballons mit dem Mund aufgeblasen hat, weil er keine Pumpe dabei hatte. Das sind die besonderen Momente, die merken wir uns lange.“

Was den LENDWIRBEL ausmacht, ist das Zusammenspiel zwischen Gestaltenden, Nachbarschaft, Aktivisti und allen, die mitwirbeln wollen. “Wer mitmacht, ist nicht bloß Act, sondern Teil des Prozesses – eingeladen, sich einzubringen, mitzugestalten, Verantwortung zu übernehmen.” Der LENDWIRBEL ist also Bühne und Werkzeugkasten zugleich. Und genau darin liegt seine politische Kraft.

(c) LENDWIRBEL

Eine Struktur für den Wirbel

Der LENDWIRBEL hatte zu Beginn keinen Masterplan, einen rasch expandierenden Impuls gab es aber. 2007 zogen die Designagentur EN GARDE und die Haarschneiderei in den Lend und statt nur das eigene Büro zu eröffnen, luden sie gleich das ganze Grätzel mit ein. Rund hundert Menschen kamen, feierten, vernetzten sich. Ein erstes gemeinsames Aneignen des öffentlichen Raums. Schon kurze Zeit später wurde die Straße gesperrt, das Programm wuchs, aus Nachbarschaft wurde Netzwerk. Mit der Gründung eines Vereins bekam der Wirbel eine Struktur – und eine Zukunft. Was als Einladung begann, wurde zum jährlichen Ritual. 

Bottom-Up & Ehrenamt

Ein ideologisch gefestigtes Kernteam bestehend aus 10–12 Personen. Ein Netzwerk aus Projektees. Ein ermutigendes Mitmachprinzip. Eine fein abgestimmte Logistik zwischen Müllsäcken, Bühnenaufbau und Förderansuchen. Monatelange Planung. Und eine Menge Mut, sich jedes Jahr neu zu hinterfragen, ohne dabei die Vision aus dem Blick zu verlieren: So arbeitet das Kernteam.

„Die Organisation folgt dem Bottom-up-Prinzip und wird getragen von Menschen, die im Viertel leben, gestalten, sich vernetzen.“ Immerhin versteht sich der LENDWIRBEL als Plattform für gesellschaftspolitische Fragen und kollektives Stadt(er)leben. Finanziert wird das Ganze ausschließlich über öffentliche Stellen: Kulturförderungen von Stadt und Land, der Kunstsektion des Bundes, dem Tourismusverband.

(c) LENDWIRBEL

Hier könnte nicht Ihre Werbung stehen

Sponsoring, Logos, Markenpräsenz? Gibt es nicht – und soll es auch nicht geben. Dass viele dennoch davon ausgehen, der LENDWIRBEL funktioniere wie jedes andere Fest, gehört zu den hartnäckigsten Missverständnissen. „Dabei ist gerade die Absenz von Werbung Teil des Konzepts – und Grundvoraussetzung dafür, dass hier alle mit denselben Voraussetzungen starten können.”

„Dabei ist gerade die Absenz von Werbung Teil des Konzepts – und Grundvoraussetzung dafür, dass hier alle mit denselben Voraussetzungen starten können.”

Das heißt keine bezahlten Werbepartnerschaften. Keine Flyer. Keine gebrandeten Stände. Ein eigenes Anti-Werbegesetz schützt dieses Profil. „Mündlich darf eh über das eigene Ding geredet werden. Und gerade weil wir keine Werbung wollen, wird’s erst richtig kreativ: Teilweise hatten die Leute extra ausgefallene Ideen für die Umsetzung ihrer Projekte! Und es spart uns viele Diskussionen.“

(c) LENDWIRBEL

Sichtbarkeit in der Partyzone

Das in den Medien vorherrschende Image, „Party und Chaos“, nagt nämlich an den Veranstaltenden. No na ned – bei so vielen Inhalten und Gedanken, die hier reinfließen. „Wir haben alle viel Spaß – trotzdem sind wir nicht nur eine Partyzone, sondern vor allem eine Projektbühne. Wir wollen uns weiterentwickeln und auch jene Orte in Graz zeigen, die sonst nicht so im Fokus stehen.” Aus diesem Grund organisiert das Team nicht nur den LENDWIRBEL, sondern beteiligt sich das ganze Jahr an Stadtteilarbeit. Diverse hier lebende Communities sollen sichtbarer werden und das zeigt auch während des LENDWIRBEL Wirkung: Lokale Betriebe wie eine Pizzeria zogen mit, boten plötzlich vegane Varianten an.“Heuer hatten wir durch die Erweiterung unserer Kernzone auf einmal  zwei Tage einen richtigen Nachbarschaftsfests-Vibe im Fröbelpark.“

Dass sich belebende Dynamiken oft mit Gentrifizierungsprozessen überschneiden, ist dem LENDWIRBEL nämlich bewusst – und ein Punkt, an dem sich das Team regelmäßig selbst hinterfragt. „Wir wollen kein Festival sein, das Verdrängung mitbefeuert“, sagen sie. Für sie heißt Integrität: Sichtbarkeit und Achtsamkeit fördern. 

Koordination matches Kreativität

„Liebevoll chaotisch“ ist beim LENDWIRBEL mittlerweile höchstens der Programmteil. Nicht die Organisation. Dass es inzwischen einen festen Musikspot gibt, der gesetzeskonform beschallt wird, sei keine Einschränkung, sondern eine Erleichterung – auch für die Artists. Die Zeiten, in denen jede Ecke ihren eigenen Sound auswarf, sind vorbei. „Das größte Learning für uns war hier, dass durch zentrale Musikspots vor allem wieder „leisere“ Projekte, wie zB. Kunst/Diskurs/Soziales mehr Raum bekommen haben, was sehr positiv aufgenommen wurde. Wir haben gelernt, dass Koordination kein Feind von Kreativität ist.“ Und es bleibt ja trotzdem Platz für Spontanität: Bis zu einer Woche vor Festivalstart können Motivierte noch Projekte einreichen – und diese Flexibilität soll erhalten bleiben. 

(c) LENDWIRBEL

Raum zum Wohlfühlen

Ideologisch klar ist der LENDWIRBEL auch bei anderen Themen: Diskriminierung und Belästigung. „Ein absolutes No-Go. Wir arbeiten an sinnvollen Awareness-Guidelines und haben dahingehend den Verein AWA Graz fix mit an Bord.“ Der Anspruch: ein Raum, in dem sich alle wohlfühlen können. Frei von Angst, offen für Unterschiedlichkeit – ob Herkunft, Geschlecht oder Ausdruck. Dieses Konzept wird auch sehr gut angenommen, wurde uns erzählt.

(c) LENDWIRBEL

Für nächstes Jahr: Support gesucht!

Und so profitiert ganz Graz von diesem Miteinander: vom Pool aus Projektemenschen mit guten Ideen – und vom Kernteam, das alles organisiert, koordiniert, sich mehrmals im Monat trifft, Anträge schreibt, Förderungen einholt, Straßensperren anmeldet, Klos entleert, Klausuren plant. „Dass wir das alles ehrenamtlich machen, sehen viele gar nicht.“ 

Deswegen braucht der LENDWIRBEL immer Unterstützung von Menschen, die etwas beitragen wollen, auch ohne selbst ein Projekt aufzuziehen „Dieses Jahr hatten wir zwei Helping Hands – das ist bei mehreren tausend Besuchenden ein bisschen wenig.“ Jedes Jahr braucht es Freiwillige, die aufbauen, wegräumen, mitdenken, improvisieren. Wer sich angesprochen fühlt, darf sich gerne melden. 

Ab September starten die nächsten Netzwerktreffen. Dann kommen wieder Menschen mit Ideen. Wieder wird Raum verteilt, diskutiert, gestritten, gelacht. „Manchmal wird’s hitzig, aber wir finden immer Konsens.“ Es gibt keine Einzelentscheidung, niemand führt allein. Diese Netzwerktreffen sind übrigens Pflicht, wenn jemand Teil des Programms sein will. „Du bist nur Part der Community, wenn du mit uns redest“, sagt das Team. „Wir wollen nicht einfach die Arbeitenden sein, die den Rahmen für alle liefern. Wir sind eine Gemeinschaft. Und die lebt vom Austausch.“ 

Austausch, Kunst, Community: das ist der LENDWIRBEL. Ein Stadtteil in Bewegung, für ein paar Tage im Jahr – und für das ganze Jahr im Kopf. Wer ihn erlebt hat, weiß, warum.