Rock’n’Roll

Im Jahr 1988 sangen die Ärzte: „Irgendwann bin ich berühmt und jeder findet mich toll. Du wirst dann mein Groupie sein. Denn das ist Rock‘ n Roll!“ So einfach klang das damals. Heutzutage wird dieser Ausdruck geradezu inflationär benutzt und jeder Jus-Erstsemestrige brüllt, während er sich nach 2 Litern aus der Bier-Bong übergeben muss: „Hey – voll Rock‘ n Roll!“ Benny und Sophia haben mal überlegt was das eigentlich für einen selbst bedeutet und wo der schmale Grat verläuft zwischen geilem Checker und stinkendem Looser…

Sophia:

Als ich Anfang 20 war, hat mal ein Typ zu mir gesagt: „Hey, ich kenn kein Mädchen in dieser Stadt, das so Rock’n‘Roll ist wie du!“ Aber woran machte er das fest?

Damals war ich einfach nur verdammt oft feiern, machte mir wenige Gedanken darüber was einmal aus mir werden sollte (Standardwunsch: Rockstar), hatte einen abstrakten Kleidungsstil, ein paar Tattoos und nahm mir, was ich wollte. Egal ob es Thomas, Stefan oder Patrick hieß. Wenn ich betrunken war, schüttete ich meinen Freunden Bier über den Kopf, klaute Mercedes-Sterne oder baggerte Jungs mit den Worten an: “Meine Freundin übernachtet auch noch bei mir, aber falls dir das zu viel ist – ich hab auch eine Küche!“ Im Nachhinein betrachtet war ich unglaublich frei, ziemlich unangepasst und immer auf der Suche nach Abenteuer. Später habe ich dann versucht den Rockstar-Wunsch umzusetzen. Ich sang in einer Band, stellte mich nur mit einem Sack bekleidet auf die Bühne eines großen Festivals, wälzte mich zwischen Monitorboxen und nahm unschuldige Indie-Boys mit in siffige Provinz-Gasthof-Zimmer. Ich fühlte mich unheimlich verrucht und ganz schön schmutzig.

Als Party-Veranstalter gab ich mir weiterhin Mühe alle Klischees zu bedienen: regelmäßiger Drogenkonsum, provokante Posen und Leitsprüche gehörten zum täglich Brot und formten ein Image, dem ich nur zu gerne entsprach. Bis vor etwa zwei Jahren etwas Seltsames vor sich ging. Als ich von Wien nach Berlin zog, fing ich an „brav“ zu werden. Ich nahm keine Drogen mehr, trank und rauchte weniger als die Hälfte von dem, was ich davor so konsumiert hatte und blieb auch gerne mal Samstag abends zu Hause. Ich hatte einfach kein so starkes Bedürfnis mehr danach Auszurasten, erlebt hatte ich (fast) alles schon mal in irgendeiner Form… Manchmal fand ich mich selbst komisch, aber schließlich hat mich ja niemand dazu gezwungen. Andy Warhol und Karl Lagerfeld waren auch meistens nüchtern und kaum einer würde ihnen absprechen, dass sie dadurch weniger lässig wirkten und wirken.

Mittlerweile habe ich kapiert, dass „Rock‘n‘Roll“ im Kopf anfängt und wenn man etwas Bleibendes hinterlassen will, ist es gar nicht so unpraktisch noch ein paar Gehirnzellen am Leben zu lassen, wenn man kreativ ist, kommen die kranken Gedanken auch ohne LSD zu dir geflogen – und sei es im samstäglichen Rock‘ n Roll-Schönheitsschlaf!


 

Benjamin:

Bevor ich hier über meine persönlichen Erfahrungen zum Thema berichten kann, stellt sich doch zuallererst einmal die Frage: Was genau bedeutet eigentlich Rock’n’Roll? Nach einiger Recherche kommt man zu dem Schluss, dass es sich hierbei wohl im weitesten Sinne um eine Anfang der 50er Jahre in Amerika entstandene Musikrichtung und die damit zusammenhängende Jugendkultur handelt. Weit- und landläufig bringt man diesen Begriff allerdings heutzutage wohl eher weniger mit einer bestimmten Musikrichtung und einem mehr oder minder einheitlichen Kleidungsstil in Verbindung, sondern versteht darunter viel mehr eine Art Lebensgefühl, das nicht zwingend mit Elvis, Jeansjäckchen, Vintage-Frisuren und dem dringenden Wunsch nach Rassengleichheit und Sexueller Revolution gepaart werden muss.

 

Vielmehr geht es wohl dieser Tage darum, einfach möglichst viel zu feiern, sich die größtmögliche Menge legale (wahlweise auch illegale) Rauschmittel zuzuführen und dabei durch möglichst ordinäre Outfits, Aktionen und Sprüche anzuecken. Ziehst du das ein paar Wochenenden lang durch und bist zusätzlich vielleicht sogar noch Mitglied einer Band (Richtung und Erfolg egal) oder schläfst regelmäßig mit einem – oder mehreren – Bandmitglied/ern, kannst du, soweit ich das verstanden habe, getrost von dir behaupten, alles richtig gemacht zu haben.

 

Gerne würde ich jetzt meine bleibenden Eindrücke durchgefeierter, durchgesexter, durchgekokster Nächte schildern, die ich nackt, zusammen mit vier dauergeilen osteuropäischen Pornodarstellern, einer aufblasbaren Britney Spears-Sexpuppe, einer Drag Queen auf LSD und einem abgehalfterten britischen Alt-Rocker, dessen Sexappeal irgendwann Ende der 80er flöten ging und nur noch durch sein beachtliches Barvermögen irgendwie ersetzt wird, in einem Hotelzimmer in der Wiener Innenstadt verbrachte, berichten. Aber einerseits liest meine Mutter diese Kolumne und andererseits wäre all dies glatt gelogen.

 

Meine Rock’n’Roll-ähnlichste Erfahrung, die mir spontan einfällt: Mein vodkageschwängerter 18ter Geburtstag, den ich kotzend zu Hause im Badezimmer verbrachte, während meine Freunde – kaum hatten sie meine Alkoholvorräte vernichtet –  gesammelt (aber ohne mich) auf eine Party gingen, auf die ich mich schon seit Wochen freute und für die ich um teures Geld VIP-Tickets für uns alle besorgt hatte. Immerhin ließen sie mich nicht ganz unbeaufsichtigt zurück, ein Bekannter eines Bekannten, den ich nie zuvor noch hinterher je wieder gesehen hatte, leistete mir Gesellschaft und wusch mir mit einer Hand liebevoll die Kotze aus dem Mund, während er mit der anderen versuchte, in meine Hose zu kommen.

 

Natürlich gab es seitdem auch den einen oder anderen rollenden Abend, über den man lieber das Tuch des Vergessens breitet aber sich heimlich doch wieder gerne daran zurückerinnert. Alles in allem bin ich aber zu dem persönlichen Entschluss gekommen, dass ein netter Abend zu Hause mit ein, zwei, drei Flaschen Rotwein, ein paar guten Freunden, genügend Zigaretten und einer Boulevardsendung auf Pro7, die auf angenehmer Lautstärke im Hintergrund läuft, das ganze Sex, Drugs & Rock’n’Roll-Zeugs weit in den Schatten stellt. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur alt geworden. Guten Tag.