Der germanische Heilschwurbel

Der goldene Aluhut #72

Über 100 Todesfälle, ein Dutzend davon minderjährig. Ein antisemitischer Arzt, dem die Approbation entzogen wurde und der vor der Justiz nach Norwegen flüchtete. Es liest sich wie das Drehbuch zum Pilot einer Netflix-Miniserie. Doch es ist die wahre Geschichte eines „Wunderheilers“ und seiner Lehre: der Germanischen Heilkunde.

AIDS wird unter ihnen als „Smegma“- Allergie gehandelt, Karies bei Kindern als Folge eines „sich nicht durchbeißen Könnens“ gegenüber Mitschülern und Diabetes bei Linkshänderinnen ist angeblich ein ungelöster Sexualkonflikt. Klingt lächerlich? Ist es auch. Aber so sehen es zumindest die Anhänger der „Neuen Germanischen Medizin“ – und die ist alles andere als eine anerkannte Heilkunst, sondern eher Scharlatanerie, die bereits vielen Menschen das Leben gekostet hat.

„CHEMOTHERAPIE SEI NUR EIN WEITERES INSTRUMENT ZUR BEVÖLKERUNGSREDUKTION.“

Der Heilschwurbel existiert bereits seit 1981 und geht auf den ehemaligen Münchener Arzt Ryke Geerd Hamer zurück, der von der irrsinnigen Annahme ausging, Krebs sei eine Art Konfliktlösung des Körpers, um mit Traumata und Verlusten klar zu kommen. Löst du den Konflikt, wirst du geheilt, so die Lehre. Da ihrer Ansicht nach keine ansteckenden Krankheiten existieren, wird unter Hamers Gefolge (natürlich) auch nicht geimpft. Impfen, so ist auf der österreichischen Webseite der Germanischen Heilkunde zu lesen, sei nämlich „selbst vielfach konfliktiv“ (sic!).

Zutiefst von antisemitischen Lehren und Verschwörungstheorien zerfressen, sprach Hamer einmal davon, dass „die [Juden] nicht möchten, dass der Rest der Welt überlebt.“ Chemotherapie, so der ehemalige Arzt, sei nur ein weiteres Instrument zur Bevölkerungsreduktion. Überhaupt lehnte er die „Schul(d)medizin“ (sic!!) strikt ab und behauptete allen Ernstes, sie sei von den Juden erfunden worden, um Nichtjuden zu töten. Puh.

Bereits 1986 wurde dem Scharlatan die Approbation entzogen. Da er zu dieser Zeit schon in mehreren Ländern per Haftbefehl gesucht wurde, floh Hamer erst nach Spanien und 2007 von dort aus nach Norwegen. Trotzdem forderte sein Treiben im Laufe der Jahre dutzende Todesopfer. Viele wegen unterlassener Hilfeleistung. Viele von ihnen minderjährig. So wie die 12-jährige Susanne aus Deutschland, die 2009 an Krebs erkrankte und nach Ansicht der Ärzte höchstwahrscheinlich hätte gerettet werden können. Susannes Eltern stoppten die begonnene Behandlung auf Anraten Hamers. Denn Susannes Metastasen seien Zysten gewesen, die von einem Badeunfall herrühren würden, welcher bei ihr einen Konflikt ausgelöst habe, so seine „Diagnose“. Die tödliche Konsequenz: Heiligabend kollabierte Susanne und verstarb auf dem Weg ins Krankenhaus.

Und Hamer? Der erklärte ihren Tod mit einem Chip, der Susanne von den Pharmaschergen eingepflanzt und mithilfe dessen sie „punktgenau ausgeknipst“ worden sei, um einen angeblichen Erfolg der Germanischen Heilkunde zu vertuschen.

Hamer verstarb im Sommer 2017 in Norwegen. Übrigens nicht an Krebs, sondern vermutlich an einem Schlaganfall. Seine Lehren erfreuen sich aber immer noch (zu) großer Beliebtheit.