Mo, 2. Nov 2009

Ich Bin Kein Berliner

Berlin ist für junge Menschen die tollste Stadt der Welt, heißt es. Das Berghain ist der beste Club der Welt, sagen die New York Times und das DJ Mag. Warum das so ist, steht hier.

Berlin steht für so vieles: Mauer, Hauptstadt, Techno, Bundestag, Clubs, Currywurst. Nach der Wende 1989 stand die Stadt vor allem für eines: Geld. Sie war Hoffnungsträger für Investoren aus aller Welt, die sich durch die zahlreichen freien Bauflächen und den neuen Markt im Osten der Stadt fette Rendite erhofften. Berlin sollte die perfekte Stadt Europas werden. Gekommen ist es aber anders als angenommen. Man kann 20 Jahre später durchaus resümieren, dass die deutsche Hauptstadt städteplanerisch ziemlich verhaut wurde. Viele Projekte scheiterten oder warfen nicht den gewünschten Profit ab – das lässt die Investoren skeptisch werden. Und so kommt es, dass viele der zum Abriss vorgesehenen Gebäude  kurzfristig leerstehen. Damit entsteht das Phänomen der „Zwischennutzung“ in Berlin, von dem hauptsächlich angehende Clubbetreiber profitieren sollten. Viele Gebäude wurden kurzerhand und oft mit sehr begrenzten Mitteln zu Clubs umfunktioniert, dazu kommt eine historisch bedingte, extrem liberale Sperrstundenpolitik: Die Stadt an der Spree hat keine Sperrstunde, was natürlich der aufblühenden Clubkultur in den Neunzigern am meisten zugute kommt. Als die Partys in der Stadt immer mehr und immer besser werden, gibt es völlig unabhängig von Berlin einen Boom auf dem Billigflug-Sektor. Plötzlich kann jeder um sehr wenig Geld spontanen Städteurlaub machen: Es entsteht der „Easyjetset“, benannt nach einer der ersten leistbaren Fluglinien. Menschen aus ganz Europa fliegen für ein Feierwochenende außer Landes, und immer öfters fällt die Wahl dabei auf Berlin.

Man muss all diese Dinge wissen, um begreifen zu können, wie aus Berlin die Stadt werden konnte, die sie heute ist. Erschwingliche Mieten, niedrige Lebenserhaltungskosten und natürlich eine Clublandschaft die Ihresgleichen sucht verwandelten die Stadt zu einem Magneten für Kreative aus aller Welt. Die Stadt erinnert an das New York der 80er-Jahre – hier findet enormer kreativer Output gleichermaßen statt wie ein offen gelebter Hedonismus, der sich jedes Wochenende in mehrtägigen Partymarathons manifestiert. Ein weiteres Merkmal der mittlerweile wohl am meisten gehypten Stadt der Welt ist ihre Internationalität. Spaziert man an einem beliebigen Tag durch den Bezirk Friedrichshain kann es passieren, dass einem ausschließlich ein Potpourri aus Englisch und Spanisch entgegenfliegt. Beim Bierholen in einem der zahlreichen „Spätis“ wird man dafür oft mit breitester Berliner Schnauze bedient, auch wenn fast nur türkischstämmige Menschen hinter den Tresen stehen. Dieser Mix macht Berlin zu einer Weltstadt, wie kein Städteplaner sie jemals hingebracht hätte, denn hier ist es jedem vollkommen egal, dass du kein Berliner bist.

Wo ist meine Mütze?

Genug der Theorie, ab in die Clubs! Genauer gesagt, den Club. Ich könnte hier auch über Watergate, Weekend oder das kürzlich geschlossene Rechenzentrum berichten. Aber wenn wir uns ehrlich sind, wollen wir alle nur ins Berghain. Wer einmal dort war, will wieder hin. Wenn er denn überhaupt in den Club kommt. Das Berghain hat die härteste Türpolitik, die ich jemals gesehen habe. Durch den Hype zieht es mittlerweile auch den letzten Touristen vor die Tür des ehemaligen Heizkraftwerks, dem Techno-Tempel mitten im Brachland des ehemaligen Ostbahnhofs. Das Berghain sucht sich seine Gäste aus, und das ist gut so. Die Mischung der Wartenden vor der Tür ist derart heterogen, dass es eine Selektion wirklich braucht. Hippe Spanier stehen neben erst-semestrigen Wirtschaftsstudenten, während ein paar Snobs versuchen, die Schlange zu umgehen. Natürlich werden sie von der Berghain-Instanz schlechthin wieder in die Wüste geschickt: Die Berliner Türsteher-Legende Sven Marquardt bestimmt, wer reindarf und wer nicht – an diesem Abend werden wohl 70 Prozent aller Leute wieder weggeschickt. Die Wartezeit beträgt jetzt schon über eine Stunde. Seit vier Uhr stehe ich im Sand und grüble: „Warum wurden die weggeschickt, die waren doch sympathisch? Gut, dass ich meine Mütze daheimgelassen habe. Verdammt, wo ist meine Mütze?“

Kurz vor der Tür geben zwei besoffene Deutsche auf. Sie haben erkannt, dass sie auf keinen Fall reinkommen. Wer geht auch schon mit FlipFlops in einen Club? Kurz vor der ultimativen Kontrolle biedert sich ein Spanier an, der alleine hier ist. Wie alle hat er Angst nicht reinzukommen und hält mich mit meiner Begleitung anscheinend für die perfekte Rutsche Richtung Exzess. Und er behält recht: Ein Türsteher fragt mich: „Zu dritt?“ Ich nicke, und er winkt uns durch. Der kleine Spanier wuselt um mich herum und kann sein Glück kaum fassen. Auch in mir macht sich eine Erleichterung breit – das Prozedere an der Tür ist im Berghain wie ein Initiationsritus, den so gut wie alle mitmachen müssen. Dementsprechend ausgelassen stürzen sich alle Erwählten Richtung Party als ob es kein Morgen gäbe. Technisch gesehen stimmt das ja auch: Niemand weiß so recht, wann der Club diesmal zusperrt.

Der heilige Exzess

Oben angekommen erwartet mich eine Party, die ich so noch nie erlebt habe. Wer nicht weiß, dass das Berghain aus dem ehemaligen Ostgut entstand, das ein deklarierter Schwulen- und Lesbenclub war, ist mit Sicherheit irritiert: Auf dem Mainfloor tummelt sich eine nicht geringe Zahl durchtrainierter Männer, die oben ohne feiern und immer wieder mal aus mysteriösen Ecken auftauchen, in denen sich die berüchtigten Darkrooms befinden.
Es spielt knüppelharten Techno, exzellent aufbereitet von Len Faki. Er kennt als Resident-DJ sein Publikum gut und kontrolliert es routiniert, aber mit einer offensichtlichen Leidenschaft. Die Intensität steigt und steigt. Len Faki hat genügend Zeit einen Spannungsbogen zu erzeugen, sein Set dauert von fünf bis zehn Uhr. Um mich herum feiern die unterschiedlichsten Menschen, die aber irgendwie doch alle zusammenpassen. Spätestens jetzt versteht man, warum die Türpolitik im Berghain so wichtig ist.

Neben mir küssen sich Männer, ein paar Meter weiter gibt sich ein Hetero-Pärchen die Kante – Sex spielt zweifelsfrei eine große Rolle im Berghain. Er ist Teil des Exzesses, der auch in der Panorama-Bar weiter oben stattfindet. Zwar ist alles ein wenig gediegener, aber auch hier wird gefeiert und die Stimmung ist bestens. Der Frankfurter André Galluzzi, ebenfalls Resident-DJ, spielt treibenden House, der perfekt zum Ambiente passt. Der Sound ist auf beiden Floors extrem crisp und der Bass drückt gewaltig. Trotzdem kann man sich selbst auf der Tanzfläche relativ gut unterhalten. Wem es doch zu laut ist, zieht sich in eine der zahlreichen Nischen, Gänge, Balkone oder Nebenräume zurück – Platz gibt es hier massenhaft. Es sind wahrscheinlich um die 1.500 Leute im Club, theoretisch passen 3.000 rein. Wenn man bedenkt, dass diese Zahl jeden Abend an einem Wochenende locker erreicht werden könnte, macht das den Club nochmals sympathischer. Auch die Tatsache, dass es im gesamten Gebäude keine Spiegel gibt ist so eine Eigenheit, die ich nur von hier kenne. Hier geht es ausschließlich ums hier und jetzt, um das gemeinsame Feiern und nicht um einen selbst – scheißegal wie du gerade aussiehst. Fotografieren und Filmen ist strengstens verboten, jeder hat seine eigene Erinnerung im Kopf, wenn er irgendwann den Club verlässt. Bei mir ist es gegen Mittag soweit, beide Floors sind noch in vollem Gange, aber meine Kraft ist erschöpft. Zufrieden schlendere ich Richtung Ausgang und werde vom gleißenden Tageslicht fast erschlagen. Aber das ist eben Teil des Deals beim Feiern: Irgendwann muss auch wieder Ruhe sein, in Berlin eben sehr, sehr spät.


Infobox: „Volume Survival-Guide Berlin“

Immer ein Öffi-Ticket dabeihaben: Kontrollore begegnen einem fast täglich!
Sternburg-Bier kostet in jedem Kiosk nur 60 Cent für den halben Liter und ist kalt ziemlich genießbar.
Wer wirklich „alle“ Partydates wissen will, besorgt sich einen Account bei www.restrealitaet.de
Die beste Pizza der Stadt gibt’s bei „Il Ritrovo“, die besten Buger beim „Burgeramt“ – beides in Friedrichshain.
Der Berliner an sich kann einem sehr schroff begegnen – gerade als Österreicher, besser nicht persönlich nehmen.
Der Viktoriapark in Kreuzberg bietet einen Super-Blick über die gesamte Stadt.
Wer wirklich gut vorbereitet in die Clubs gehen will, liest „Lost and Sound – Berlin, Techno und der Easyjetset“ von Tobias Rapp.