Mo, 4. Dez 2017

Die Kraft der Sehnsucht

Milky Chance im Interview

Aus dem Do-it-Yourself-Projekt zweier Schulfreunde aus Kassel wurde Stück für Stück ein globales Pop-Phänomen, das auch 2017 noch nicht aufgehört hat, weiter zu erblühen. Ganz im Gegenteil! Auf ihrem Debütnachfolger schreiben Clemens und Philipp mit ihrer kühlen Melancholie und feinen Beats die Fortsetzung ihres ganz eigenen Märchens. Der letzte Tanz ist noch nicht getanzt, Baby! VOLUME hat mit dem Duo über die treibende Kraft der Melancholie philosophiert.

Nach einem derart gefeierten Debüt (wie ‚Sadnecessary‘) ist für viele Musiker oft das zweite Album das schwerste. Wie seht ihr das? 

Clemens: Nein, es war für uns eigentlich nicht schwierig, wieder an neuen Sachen zu arbeiten. Wir hatten total Bock darauf! Wir wollten einfach neue Musik machen und neue Songs produzieren. Immerhin sind wir mit dem ersten Album fast drei Jahre getourt. Wir haben uns einfach bei Philipp zuhause getroffen, um wieder die Intimität zu haben, die wir beim ersten Album hatten. Vielleicht hat dieses Gefühl von damals alles auch so einfach gemacht – ruhig, gewohnt, isoliert. Unsere kleine heile Welt, durch die wir auch ein bisschen Abstand von allem bekommen konnten.

Apropos ‚zuhause‘ … Was müsst ihr auf Tour dabeihaben, um euch doch vielleicht ein bisschen zuhause zu fühlen?  

Philipp: Wir haben uns. Die Freundschaft, die wir bereits vor Milky Chance hatten, ist immer dabei und somit auch ein Stück weit zuhause. 
Clemens: Man kann sich gegenseitig immer ein bisschen Heimat geben. 
Philipp: Wir haben den gleichen Freundeskreis, wir kennen die Familie des anderen – wir sind uns somit sehr nahe. Das Gefühl von zuhause kommt auch auf, wenn man über verschiedene Dinge redet, die der andere kennt.

Sehr schön! Was ist aus dieser Freundschaft auf eurem neuen Album erblüht?

Clemens: Die Nummer gab es schon, aber der Titel ist uns erst im letzten Sommer eingefallen. Wir haben ein paar Festivals bespielt – unter anderem in den USA. Eines Tages lagen wir dort vor der Show am Nachmittag unter einem Baum und plötzlich fiel Philipp ‚Blossom‘ ein.
Philipp: Die Inspiration in diesem Moment war einfach der Blick von unten in die Baumkrone, wo das Licht durch die Äste schimmert. Die vielen kleinen Wege.
Clemens: Sie symbolisieren die Wege, die sich unser eröffnet haben – privat als auch beruflich. Es ist so viel Gutes passiert. So viel ist sozusagen aufgeblüht.
Philipp: Blossom? Passt! (lacht) Das Wort an sich ist auch total schön. Clemens verwendet in den Lyrics auch gerne Naturmetaphorik. Außerdem ist das Wort fast symmetrisch – sowas gefällt uns. 

Natürlich habt ihr euern Hang zur Melancholie nicht verloren, aber insgesamt klingt das Album kraftvoller …

Philipp: Kraftvoller? 
Clemens: Das haben wir noch nicht gehört. Viele sagen, es sei fröhlicher. 
Philipp: Kraftvoller finde ich schöner! Danke!

Gerne! Und wie empfindet ihr das selbst?

Philipp: Dazu müsste ich mir das alte Album wieder einmal anhören. (lacht) Aber es macht schon Sinne, das Album als kraftvoller zu bezeichnen, denn es steckt musikalisch mehr drinnen. Es gibt mehr Sounds, die an sich auch kraftvoller sind. Alles ist selbstgemacht und transportiert dementsprechend auch mehr. Die Songs sind viel umfangreicher. Achtung Nerdtalk: Unsere alten Songs hatten zehn bis zwanzig Spuren, jetzt sind es dreißig bis vierzig Spuren.

Doch in der Melancholie steckt ja auch viel Kraft oder?

Clemens: Melancholie hat etwas unglaublich Kraftvolles und ist nicht zwingend traurig. Früher war Melancholie total angesehen. Die ganzen Philosophen und Denker wie Sokrates waren Melancholiker. 
Philipp: Und dann kam Nitzsche. (lacht)
Clemens: Melancholie ist eine innere Sehnsucht, die auch oft gar nicht ausformuliert ist. Eine Sehnsucht nach etwas, das man gar nicht fassen kann – ein bisschen wie der Glaube. Nicht der religiöse Glaube, sondern einfach der Glaube an irgendetwas Höheres. Der kann auch viel Kraft geben. Melancholie wäre in diesem Kontext dann die Kraft der Sehnsucht.

Sehr schön gesagt! Auf ‚Blossom‘ geht es auch ein Stück weit um einen veränderten Blick auf das Leben … wie hat sich eure Sicht auf das Business seit eurem Debüt verändert? 

Philipp: Für uns hat sich grundlegend vielleicht herauskristallisiert, dass wir keine Businessmänner sind, sondern einfach nur Musik machen wollen. 
Clemens: Genau. Ansonsten haben wir das Klischeedenken, von wegen die Indie-Labels sind die Coolen und die größeren Labels sind blöd, abgelegt. Wir haben gelernt, dass es nicht auf die Labels ankommt, sondern auf die Menschen. 
Philipp: Außerdem kommt es einfach drauf an, wie du deine Kunst machst und was dir wichtig ist. Auch das Klischee, von wegen bei Major reden sie dir in deine Kunst rein, ist Blödsinn. Es kommt einfach drauf an, was dir wichtig ist und wo du dir reinreden lässt und wo nicht.

Was dieses Klischeedenken damals auch der Grund, ‚Sadnecessary‘ in Eigenregie zu machen?

Philipp: Das war mehr jugendlicher Idealismus und der Antrieb, etwas zu tun. Etwas selbst zu machen und nicht den klassischen Weg zu gehen.

Hat ja auch super funktioniert! Apropos Veränderung … wie schwierig ist es für dich, deine Rollen als Vater und Musiker unter einen Hut zu bringen, Clemens? 

Clemens: Das einzige Schwierige ist vermutlich, dass man beidem viel Zeit schenken möchte. Touren ist zeitintensiv, man ist viel weg und muss irgendwie eine Balance finden. Wir versuchen jetzt, familienfreundlicher zu touren mit Pausen zwischendurch – nicht mehr so Monsterritte wie drei Monate am Stück durch Amerika. Kinder haben und berufstätig sein kann sich generell schwer vereinbar anfühlen – egal ob man jetzt Musiker ist oder nicht. Auf der einen Seite wäre man am liebsten den ganzen Tag zuhause bei seinen Kindern, aber das funktioniert in der Gesellschaft, in der wir leben, nun mal nicht. Auf der anderen Seite verfolgt man natürlich auch gern seine Passion – wenn man eine hat – was auch sehr wichtig ist, da man die seinen Kindern vielleicht auch ein bisschen vermitteln will. Das ist aber auch ein ständiger Findungsprozess. Da gibt es nicht einen Plan, den man durchzieht bis das Kind 18 Jahre alt ist und sein eigenes Ding macht. Man muss sehr flexibel und kooperativ sein.

Wir wünschen euch alles Gute für diesen Findungsprozess. Bis bald in Wien!