Do, 12. Okt 2017

Kettcar 'Ich vs. Wir'

Album der Woche #41

Paradoxerweise sind es die künstlich erschaffenen Figuren, die den Songs von Kettcar diese Echtheit verpassen, die ihnen Leben einhauchen. Figuren, die auf den zweiten Blick gar nicht so künstlich wirken. Im Falle von ‚Ich vs. Wir‘ muss nur links und rechts geschaut werden. In der U-Bahn, im Fußballstadion, im Bundestag. Und plötzlich kommt das traurige Erwachen, dass Kettcar mit ihrem fünften Werk den Zeitgeist abgeschossen haben. Gerade eben ‚weil die Menschen überhaupt keinen Sinn ergaben‘.

In elf Liedern bewegen sich die Hamburger auf ihrem weitläufigen Pfad zwischen Alltag, Politik und Hoffnungslosigkeit. Eine Reise von der ‚Trostbrücke Süd‘ bis hin zur ‚Klischeehölle Mitte‘. Gewohnt einfühlend, beobachtend und nicht überstürzt. Ungewohnt politisch, sodass man schnell mal in längst vergessenen Prä-Kettcar-Erinnerungen schwelgt. Und wieso? Weil es nötig ist zwischen Wohlfühlmist und Protestsongparolen diese Lücke zu schließen. Auf eine Art und Weise, die das Herz erwärmt. Wie es Kettcar schon immer taten, nur diesmal etwas lauter.

Auch wenn die Vorboten ‚Sommer ‘89 (er schnitt Löcher in den Zaun)‘ und ‚Wagenburg‘ ein rein politisches Album vermuten ließen, räumen sich Kettcar auch auf ‚Ich vs. Wir‘ genügend Platz für Alltagsgeschichten ein. Für den kleinen Jungen mit dem trotzigen Blick, dessen Hund gestern gestorben ist. Für das verprügelte Mädchen mit dem gestohlenen Make-up. Für das Du und Ich. Zweitrangig wirkt dabei vielleicht die Musik. Dennoch ist es Kettcars melancholischer, vorantreibender Gitarrenpop, der dem Ganzen seinen Einzug ins Gedächtnis gewährt und den Auszug verwehrt.

Fünf Jahre hat es gedauert, bis sich Kettcar endlich wieder von sich hören ließen. Mit einem Werk, das so tief in die Poren drückt, dass Empathie zum Dauerzustand wird. Manchmal zahlt es sich aus, im Stillen zu warten. Manchmal halt eben auch nicht. Denn jetzt sitzen sie hier, im Bundestag, in der U-Bahn, im Fußballstadion und erzählen uns was von Weltuntergang. Und dann der verdutzte Blick, ‚hab [ich] mich im Jahr geirrt? Tut mir leid. Doppelpunkt. Klammer auf‘.

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  • Farewell Dear Ghost: Neon Nature
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  • Knuckle Puck: Shapeshifter
  • L.A. Guns: The Missing Peace
  • Mine & Fatoni: Alles Liebe nachträglich
  • Special Request: Belief System
  • Stars: There Is No Love In Fluorescent Light
  • Stick To Your Guns: True View
  • Tegan and Sara: The Con X: Covers
  • The Barr Brothers: Queens Of The Breakers
  • The Pack A.D.: Dollhouse Tusks Dissolve
  • Weekend: Keiner ist gestorben
  • Wu-Tang Clan: Wu-Tang: The Saga Continues