Die Pissstrahltheorie

Innenleben #53

Mit 16 war ich sehr verknallt in Robert. Mit einem Altersunterschied von drei Jahren – er war 19 – ist er bis heute der verhältnismäßig älteste Freund, den ich je hatte. Eines Abends lagen wir abseits der Grillerei am Wasser, blickten in die Sterne und er machte mit mir Schluss.

„Also meine Theorie ist ja, dass unser Universum nur der Pissstrahl eines Menschen ist, der Teil eines anderen Universums ist. Wir sind die Moleküle in diesem Pissstrahl. Wir kommen oben auf die Welt und krachen irgendwann auf den Boden. Manche fallen in diesem Strahl schneller, andere langsamer. Als wir uns trafen, waren wir auf der gleichen Ebene. Aber ich befürchte, ich hab dich tempomäßig wieder abgehängt.“ Natürlich tat es weh, keine Frage. Aber ich fand es auch überraschend einleuchtend. Hey, ich war 16 und schon nach einem halben Bacardi-Cola quasi betrunken. Da kann so eine Pissstrahltheorie durchaus beeindruckend sein. Wir hatten eben nur für einen Moment ähnliche Raum-Zeit-Koordinaten im großen Pissstrahl-Kontinuum, wo wir im Gleichklang waren.

Daran musste ich gestern wieder denken, als ich mit Daniel händchenhaltend die Straße entlangging: „So tust du Händchenhalten?‘ – „Ja?“ – „Mir wäre es lieber so.“ – „Ehrlich? Das ist doch, wie sich Kleinkinder an der Mutter halten.“ – „Aber in deiner Art drückst du mir die Finger zusammen.“ – „Hm. Das fühlt sich seltsam an.“ – „Ja, ich merk’s. Komisch.“ Daniel und ich sind nicht im Gleichklang. Die Vorstellung von uns als Paar ist zwar verlockend, aber unser Luftschloss ist – frei nach David Lynch – in der Fantasie viel bezaubernder, als es in Wirklichkeit ist. Wir verbringen die Nacht miteinander: „Warum hab ich nach unseren Treffen immer diesen Ausschlag am Hals?“ – „Dabei hab ich jetzt eh schon mein Eau de Toilette gewechselt.“ – „Ach, das ist lästig. Vielleicht ist es ja das Waschmittel?“ – „Oder du bist einfach allergisch auf mich.“ Ja vielleicht. Denn – wenn ich mich recht erinnere – stoßen sich Moleküle, die nicht zusammengehören, ab. Elektronen werden aufgenommen oder abgegeben und in der Folge Verbindungen eingegangen oder beendet. Du brauchst das Elektron da grad nicht? Cool, nehm ich, kann ich brauchen. Sich verlieben hat auch etwas mit Konditionierung zu tun. Glaube ich. Wenn mich jemand gut findet und mir ein gutes Gefühl vermittelt, kann sich daraus etwas entwickeln, das alleine durch den Anderen evoziert wurde. Daniels Gesten beeindrucken mich, aber ich weiß nicht, wie ehrlich sie sind. Ich bin gefesselt von seinem Blick, aber ich habe schon mitbekommen, dass er auch andere so ansieht. Er macht Witze und ich lache, auch wenn ich nicht immer alle verstehe. Es ist nicht entspannt zwischen uns. Es ist anstrengend und ermüdet mich. Wir sind uns für einen kurzen Augenblick auf der gleichen Ebene im Pissstrahl begegnet und haben ein paar Elektronen ausgetauscht. Und dies hat blöderweise bewirkt, dass wir nun einander wieder abstoßen. „Ich hol was zu trinken.“ – „Ich komme mit.“ – „Warum?“ – „Naja, du wirst am Weg vielleicht jemanden begegnen und mit ihm reden. Und ich werde auch nicht ewig alleine hier sitzen und auf dich warten. Um also diese Störfaktoren gleich auszuschalten, komme ich einfach mit.“ Aber so spielt sich das nicht. Man kann die Gesetze des Pissstrahls nicht austricksen. Denn Daniel und ich fallen schon wieder in andere Richtungen im großen Pissstrahl-Universum. Hat auch was mit Schwerkraft zu tun. Und gegen die kann man ja nichts machen, soviel ich weiß.