Mi, 8. Jul 2015

Nachtschattengewächse

The Prodigy im Interview

Mitten auf die Fresse – das ist und bleibt auch nach 25 Bandjahren das Motto von The Prodigy. Im Frühling haben die sichtlich gealterten Wunderkinder aus dem Vereinigten Königreich ihr sechstes Studioalbum ‚The Day Is My Enemy‘ veröffentlicht. Bevor The Prodigy damit im August das FM4 Frequency Festival verprügelt, hat VOLUME mit Produktionsgroßmeister Liam Howlett über einen geregelten Tagesablauf, die Vorzüge der Nacht, Vampirismus und Festivalkatermedizin nachgedacht.

Das neue Album von The Prodigy heißt ‚The Day Is My Enemy‘. Wie schaut ein ’normaler‘ Tag im Leben von Liam Howlett aus?

Unglaublich aber wahr: Auch ich muss in der Früh erst einmal das Bad bzw. WC aufsuchen und freue mich dann über ein gutes Frühstück. Was dann aber meistens ein spätes Mittagessen ist, denn ich arbeite in der Regel nachts im Studio. Wenn ich frei habe und nicht auf Tour bin, verbringe ich den Tag mit meinem Sohn. Das hat jedoch nichts mit dem Namen unseres neuen Albums zu tun!

Sondern was genau?

Es geht dabei um die Dualität und die damit verbundenen Gegensätze zwischen Tag und Nacht. Denn nachts ist alles anders – das hat Robert De Niro als Travis Bickle im Film ‚Taxi Driver‘ schon ganz gut auf den Punkt gebracht. Wie sagt er da so schön: ‚Wenn es dunkel wird, taucht das Gesindel auf: Huren, Betrüger, Amateurnutten, Sodomiten, Schwuchteln, Drogensüchtige, Fixer, kaputte Syphkranke.‘ – er skizziert den scharfen Kontrast zum hellen, glatt geleckten Tag. Auch wir von The Prodigy sind mit unserem Sound ein Teil dieser dunklen Welt. Warum? Weil wir erstens gar nicht zu dieser oberflächlichen Popfassade gehören wollen, die sich mit dem Tageslicht ausbreitet. Und zweitens passen wir von unserer rauen, aggressiven Art her einfach besser ins Mond- als ins Sonnenlicht.

Weil ihr Vampire seid?

(lacht) Nicht ganz, aber wir funktionieren einfach besser in der Nacht – als Band und als Einzelpersonen. Ich beginne mit meiner Arbeit frühestens am Abend, denn nur dann finde ich die Inspiration für unseren Sound und Abstand vom Alltag – also genau wenn die Langweiler ins Bett gehen und die Freaks gerade erst munter werden! Auch Kollege Keith Flint ist alles andere als ein Morgenmensch. Er betreibt einen schönen, traditionellen Pub in Essex. Hochbetrieb ist dort auch erst zu späterer Stunde, also arbeitet Keith auch fast ausschließlich nachts.

Wie oft bist du dort sein Gast?

So selten wie möglich, schließlich muss ich diese Nervensäge schon ertragen, wenn wir zusammen für The Prodigy arbeiten. Das reicht vollkommen! (lacht) Spaß beiseite: Keith ist ein Freak, aber dafür ein sehr liebenswerter! Ich schätze an ihm vor allem, dass er sich nichts scheißt und wie ich offen und ehrliche seine Meinung ausspricht. Wer traut sich das heutzutage denn noch in diesem weichgespülten Musikgeschäft? Jeder kriecht jeden in den Arsch! Nicht mit uns…

Klingt danach, als ob eure Plattenfirma viel Spaß mit euch hat?

Wenn es um Musik geht, gibt es keine Kompromisse oder Wünsche bzw. Forderungen von außen. Wir lassen uns von niemandem reinreden – schon gar nicht von unserer Plattenfirma. Das Label muss nehmen, was es kriegt. Ende!

Nach sechs Jahren habt ihr jetzt wieder etwas zum Veröffentlichen abgeliefert. Wem gehört die Frauenstimme auf eurem Albumsong?

Martina Topley-Bird, die das Lied ‚All Through the Night‘ von Cole Porter interpretiert. Ich habe diese Aufnahme schon seit über vier Jahren auf Band gehabt, konnte dafür aber keine passende Verwendung finden. Doch wie das Leben so spielt, bin ich beim Durchforsten meiner Sound Files wieder darüber gestolpert und habe dann die passende Verwendung dafür gefunden. Bingo!

Mit Sleaford Mods habt ihr den szenekritischen Song ‚Ibiza‘ produziert. Was habt ihr gegen die balearischen Insel?

Land und Leute sind nicht das Thema, sondern die musikalische Scheiße, die dort als Gold verkauft wird. Die nicht vorhandene Kreativität und offensichtliche Faulheit vieler Produzenten sind absolut peinlich, noch schlimmer ist, dass es den Partymenschen anscheinend egal ist und für schlechten Sound aus dem USB-Stick auch noch massig bezahlen. Was für ein Schwachsinn! Der Song soll das Bewusstsein darauf schärfen, welche traurigen Entwicklungen in unserer Szene gerade stattfinden.

Braucht die elektronische Musikwelt The Prodigy?

Ja!

Und warum?

Ohne The Prodigy hätten jede Menge Leute viel weniger Spaß gehabt in den vergangenen Jahren. Die aktuellen Entwicklungen in der Szene sind wie bereits erwähnt besorgniserregend – wir wollen einfach dazu beitragen, dass der ganze Müll nicht Überhand nimmt.

Apropos Spaß: Einer eurer neuen Songs heißt ‚Medicine‘. Was ist das beste Mittel gegen akuten Festivalkater?

Ganz einfach – eine neue Flasche Champagner und schon ist der Hangover wie weggeschäumt. Das kann ich nach 25 Bandjahren ausdrücklich empfehlen!

Dann werden wir das am FM4 Frequency genau so zelebrieren – bis bald in St. Pölten!