Di, 27. Jul 2010

Massive Attack im Interview - Lead

Tricky sang im Hintergrund und Geoff Barrow von Portishead kochte den Tee: Als Massive Attack 1990 bei den Aufnahmen zu ihrem ersten Album „Blue Lines“ die Beats auf Schneckentempo drosselten, während alle anderen noch höher, schneller und weiter schraubten, legte das Trio den Grundstein für ein neues Genre. Auch wenn der Begriff „Trip Hop“ dafür erst danach mit den Erfolgen der musikalischen Wegbegleiter Portishead und Tricky installiert wurde. Zwanzig Jahre später und mit ihrem aktuellen Album „Heligoland“ im Gepäck, kommt die Band aus Bristol – mittlerweile zum Duo geschrumpft – als Headliner zum Frequency Festival nach St. Pölten. Mastermind Robert „3D“ Del Naja im Interview über geheilte Wunden, die Politik auf Heligoland und Gesellschaftsverweigerung.

Wieso habt ihr euch für das neue Album „Heligoland“ ganze sieben Jahre Zeit gelassen?


Robert „3D“ Del Naja: Wir haben uns ein Studio gebaut, ich war für eine Zeit lang von der Arbeit an Soundtracks fasziniert und damit abgelenkt. Und dann haben G und ich Zeit gebraucht, dass wir unsere Wunden lecken. Und heilen.

Welche Wunden meinst du?


Die Aufnahmen zu „Mezzanine“ waren chaotisch und dann hatten wir diese intensive Tour von 1998 und 1999. Danach hatten wir einander nichts mehr zu sagen. Mushroom ist deshalb ausgestiegen. Daddy G und ich mussten danach erst eine neue Arbeitsweise als Duo finden. Ich hatte damals das Gefühl, dass G im Studio nicht präsent war, nicht mehr am kreativen Prozess teilgenommen hat. Ich fühlte mich alleine gelassen und war deshalb enttäuscht von ihm. Und er hasste meine Einstellung, weil ich ihm gegenüber sehr abweisend war.

Waren diese Streitereien der Grund dafür, dass du das vorige Album „100th Window“ alleine aufgenommen hast?


Irgendwie wird es zwischen uns wohl immer mal wieder Streitereien geben, weil wir beide schwierige Menschen sind – und auch sehr dickköpfig und stolz. Aber G ist damals gerade Vater geworden und wollte sich erst einmal auf diese Rolle konzentrieren. Die schwerwiegenden Differenzen haben wir jetzt ausgeräumt. „Heligoland“ ist das erste Album, bei dem es keinen großen Konflikt gab.

Wie habt ihr die Differenzen ausgeräumt?


Auf der Tournee zu „100th Window“ war G wieder dabei und wir waren zum Co-Existieren gezwungen. Wir haben viel gesprochen und so die Konflikte auch aus der Sicht des anderen wahrgenommen. G kommt aus der DJ-Szene, er hat eine ganz andere Arbeitsweise, sitzt nicht wie ich jeden Tag im Studio. Früher hat mich das geärgert. Heute denke ich: Cool, dann kommt er mit frischen Ohren und frischem Input, der mir, wenn ich so tief im Aufbau der Tracks stecke, verwehrt bleibt.

Hat der Titel „Heligoland“ politische Hintergründe?


Es geht in den Songs viel um unterschiedliche Persönlichkeiten, und ich finde es nett, dass der Titel einen Ort repräsentiert anstatt einer Sache. An so einem Platz können alle diese unterschiedlichen Persönlichkeiten gemeinsam existieren. Aber um ehrlich zu sein, für die Insel habe ich mich erst interessiert, nachdem ich mich in das Wort verliebt hatte. Aber ihre Geschichte ist faszinierend: Schon alleine die Tatsache, dass der Name „Holy Land“ bedeutet. Aber auch die Invasion der Briten und die größte nicht-nukleare Explosion, die dort stattfand. Und, dass Werner Heisenberg dort der entscheidende Durchbruch in der Quantentheorie gelang.

Ihr beginnt das Album mit „Pray For Rain“, einem atmosphärischen Stück zum Thema Afrika.


Das ist unsere Sicht der Lage in Afrika und der Hungersnöte. Aber gleichzeitig ein spirituelles Lied über das geistige Erwachen. Und die Geschichte von Menschen, die zusammen kommen. Also wie üblich bei Massive Attack: Wir wollen immer mit einem Hintern auf tausend Kirtagen tanzen.

Weil ihr den Anspruch habt, eine Symbiose aus mystischem Erlebnis und sozialer Botschaft zu schaffen?


Genau. Das Wichtigste ist uns, dass die Musik die Leute in eine andere Welt trägt, in die sie komplett abdriften können. Aber wir wollen auch unbedingt auf einem sozialen Level relevant sein. Das liegt daran, dass Bristol eine multikulturelle Stadt ist und wir verschiedene Ethnien in der Band repräsentiert haben. Und daran, dass G und ich mit den Specials und The Clash aufgewachsen sind, diese Protestsongs und die Rebellion bewundern. Ich würde es lieben, fähig zu sein, einen Protestsong zu schreiben, den die Leute singen, wenn sie mit Transparenten vor dem Rathaus aufmarschieren. Aber ich kann das nicht. Musikalisch bin ich nur gut darin, Stimmungen einzufangen.

In dem Song „Rush Minute“ beschreibst du dich als einen „Drop-Out“, einen Gesellschaftsverweigerer…


Auf ironische Weise. Okay, vielleicht ist es auch ein bisschen romantisch. Denn der einzige Grund, warum ich zum Musikmachen gekommen bin, war, dass ich mich den Erwartungen der Gesellschaft entziehen wollte. Ich hasste es, zu studieren. Dann habe ich gearbeitet, aber es gehasst, dass mir jemand vorschreibt, was ich zu tun habe. Ich habe einige Jahre damit verbracht, über dem Pub meines Vaters zu leben, erst am Nachmittag aufzustehen und direkt wieder runter an die Bar zu gehen.

War das nicht langweilig?


Ich denke, in der Zeit war Graffiti sprayen mein Antrieb. Und dann das „Wild Bunch“-Ding, wo wir Warehouse-Partys inszenierten, Lagerhallen okkupierten, die Wände mit Graffiti bepinselten, alles von Hip Hop über Punk bis Reggae spielten und uns als MCs und DJs versuchten. Das war damals meine Leidenschaft, mein Platz zum Austoben und Ausprobieren, wo ich hingehöre.

Was für eine Show bringt ihr nach St. Pölten?


Natürlich geht es in der Show wieder genauso um visuelle Stimulation wie um musikalische. Normalerweis haben wir auf dem Videoschirm hinter uns Texte laufen. Wir nehmen dafür Informationen aus den Tageszeitungen der jeweiligen Stadt, manche politisch, manche trivial, und machen daraus eine Collage, um die Widersprüche in den Medien und im alltäglichen Leben zu illustrieren. Diesmal – ohne das Wort „Filmkunst“ verwenden zu wollen – werden wir es ein bisschen anders angehen und auch Verblüffenderes liefern.

Beschreib den Vorfall mit dem Videoschirm und Stefano Cucchi.


Stefano Cucchi war ein Italiener, der im Gefängnis gestorben war. Pro Jahr bringen sich in Italien 1500 junge Männer um, während sie in Polizeigewahrsam sind – was für ein zivilisiertes Land eine verrückte Statistik ist. Wir hatten das aus einer Meldung von La Republica auf den Schirm genommen, jemand filmte das und stellte es auf YouTube. Von dort haben es viele andere Medien und auch noch einmal La Republica aufgegriffen. Zwei oder drei Tage später sagte der Justizminister, dass sie sich den Fall ansehen werden. Es ist toll, wenn wir mit unserer Show nicht nur Feeling und Stimmung rüberbringen, sondern so konkret etwas verändern können.

FACT BOX
Besetzung: Robert „3D“ Del Naja, Grant „Daddy G“ Marschall und bis 1998 Andrew „Mushroom“ Vowels. Massive Attack arbeiten häufig mit befreundeten SängerInnen wie Martina Topley-Bird und Horace Andy. Die Band ging aus dem Künstler-Kollektiv The Wild Bunch hervor, das Ende der 80er-Jahre in Bristol Warehousepartys organisierte.

Namensänderung: Nach dem Erscheinen des Debüt-Albums „Blue Lines“ 1991 nannte sich das Trio wegen des Golf-Krieges für kurze Zeit nur mehr Massive. In einem Interview 1999 erklärte Daddy G., dass das auf Druck der Plattenfirma geschah, die befürchtete, wegen des Namens kein Airplay für die Band zu bekommen.


Engagement: 2003 organisierte Robert Del Naja mit Damon Albarn in London eine Demo gegen den Irakkrieg. Heute konzentriert er sich lieber auf die Arbeit mit kleineren Organisationen wie Hoping Foundation, die sich um palästinensische Kinder kümmert, oder Reprieve, die Rechtshilfe für Guantanamo-Häftlinge stellt.

Videos: Immer wieder setzen Massive Attack auch mit ihren Videos Trends. Der Clip zum Erstlingshit „Unfinished Sympathy“, gedreht von Baillie Walsh, war einer der ersten, der keinen Schnitt hatte. The Verve griffen diese Idee später für ihren Clip zu „Bittersweet Symphony“ auf. Der Clip zu „Teardrop“ aus dem Album „Mezzanine“ von Regisseur Walter Stern zeigt einen Embryo in der Gebärmutter, der er den Song singt.